Ich bin allein, oder: Der Preis des Erwachsenseins

03Mai2017

Image: Alone, © Rob Gallop via CC BY-ND 2.0, source: Flickr, no endorsement on part of the licensor

 Ich bin allein. M. aus Japan ist vorgestern abgereist, K. schon am Samstag und zum ersten Mal in zwei Monaten bin ich die einzige Freiwillige hier.

Natürlich bin ich nicht wirklich allein – ich bin ja noch von meiner Gastfamilie, den Kindern und Lehrerinnen in der Schule und den anderen Leuten von UVIKIUTA (meiner Organisation hier) umgeben, aber es ist niemand mehr da, der sich in der selben Situation wie ich befindet. So herzensgut und freundlich alle in meiner Umgebung sind, haben sie doch auch genug mit ihren eigenen Leben zu tun und teilen nicht die Erfahrung, Fremde in einem fremden Land und einer fremden Kultur zu sein.

Alleinsein, stellt sich heraus, ist schwieriger als ich dachte. Ich komme aus einer (relativ) großen Familie. 3 ½ Kinder (den Hund zähle ich mal nur halb, obwohl meine Mutter ihn als ihr „viertes Kind“ bezeichnet), zwei jüngere Brüder und eigentlich immer was los. Bei uns im Haus ist man niemals wirklich allein und es ist selten still. Die meiste Zeit meiner Teenagerjahre habe ich damit verbracht, mir weniger Unordnung, Streitereien, elterliche Bevormundung, Launen anderer Leute, aufgezwungene Familienaktivitäten und lästige Haushaltspflichten zu wünschen.

Für mich war es verlockend, hierher zu kommen und auf mich selbst gestellt zu sein. Alleine zurechtzukommen, eigene Entscheidungen zu treffen, erwachsen zu werden.

Ich wollte meine Komfortzone verlassen und meine Grenzen austesten. Ich wollte wissen, wie es ist, sich selbstständig zurechtfinden zu müssen.

Eigentlich habe ich es mir als eine Art Erwachsenwerden im Schnelldurchgang und unter extremeren Bedingungen vorgestellt. Viele Leute ziehen mit 18 von zu Hause aus, aber selten gleich 7000 km weit weg. Viele müssen sich an ein neues und fremdes Umfeld gewöhnen, aber normalerweise sprechen sie zumindest die Sprache. Viele müssen sich ein Stück weit von ihrer Familie loslösen, aber die meisten können übers Wochenende wieder nach Hause fahren. Ich nicht. Ich bin allein.

Das hat seine Vorteile. Ich kann selbst bestimmen, wie ich meine Zeit verbringe und was ich tue. Wesentlich weniger Fremdbestimmung und äußerliche Zwänge, mehr Freiheiten.

Aber es ist auch eine Herausforderung, und das hätte ich so nicht erwartet. Wichtige Entscheidungen selber treffen zu müssen ist unheimlich. All die Verantwortung ist bisweilen angsteinflößend.

Irgendwie scheint das die Definition des Erwachsenseins zu sein: mehr Freiheit im Gegenzug zu mehr Verantwortung.

Wenn man nur das Gegenteil kennt (und nicht unbedingt mag), beginnt man das Erwachsensein zu verklären. Auf der anderen Seite ist das Gras immer grüner. Wenn man es dann mal kennen lernt, beginnt es an Glanz zu verlieren. Die eigenen Erwartungen werden realistischer. Und man lernt den Preis dafür kennen.

Ob es das wert ist? Die meiste Zeit über: ja. Aber manchmal fühle ich mich trotzdem allein.